Wenn der Kindergarten zur gewaltigen Herausforderung wird

Frühkindliche Gewalt, überforderte Systeme und was Fachpersonen brauchen

Simone Hunziker
Juli 2025

 

Kindergärten sollten Orte sein, an denen Kinder spielerisch lernen, Freundschaften schliessen und erste Bildungserfahrungen im Schulsystem machen. Doch in vielen Einrichtungen hat sich der Alltag in den letzten Jahren massiv verändert. Pädagogische Fachpersonen berichten von einer zunehmenden Eskalation im Verhalten einzelner Kinder und einem System, das an seine Grenzen stösst.

 

Alltag an der Belastungsgrenze

Fachpersonen aus verschiedenen Kindergärten berichten übereinstimmend: Der Umgangston ist rauer geworden, die Konfliktdichte höher. Aggressives Verhalten, respektlose Sprache, körperliche Übergriffe, Verweigerung und gezielte Sachbeschädigungen gehören mancherorts zum Alltag; Verhaltensweisen, welche wir bis anhin aus der Oberstufe kannten. Die Spannbreite reicht von lauten Auseinandersetzungen bis zu extremen Situationen wie mutwilligem Urinieren oder Würgehandlungen gegenüber Lehrpersonen.

Solche Verhaltensweisen betreffen nicht nur die betroffenen Kinder selbst, sondern gefährden das Wohlbefinden aller, einschliesslich der Fachpersonen. Viele berichten von emotionaler Erschöpfung, Schlafproblemen und dem Gefühl, ständig im Überforderungsmodus zu funktionieren.

 

Zwischen Engagement und Systemüberlastung

Ein zentrales Problem: Oft sind es zwei oder drei Kinder pro Klasse, deren Verhalten bis zu 70 % der Ressourcen binden. Gleichzeitig mangelt es an klarer Unterstützung von Seiten der Eltern. Hinweise von Fachpersonen werden relativiert oder abgewehrt, nicht selten schlägt ihnen offene Respektlosigkeit oder sogar verbale Gewalt entgegen. Das Dilemma: Gleichzeitig fühlen sich Eltern von den Fachpersonen zu wenig verstanden und einbezogen.

Hinzu kommt: Die multiprofessionelle Zusammenarbeit mit Schulassistenzen, Heilpädagog:innen, Therapeut:innen und weiteren Fachpersonen. Sie ist zwar fachlich sinnvoll, aber organisatorisch herausfordernd. Mangelnde Koordination, zu wenig ausgebildete Assistenzpersonen und ein dicht getakteter Alltag erschweren die Umsetzung und lassen das Eintauchen, beispielsweise ins Freispiel, nicht genügend zu.

 

Was Kindergartenlehrpersonen stark macht

Trotz der Belastung benennen viele Fachpersonen auch klare Kraftquellen:

  • Die kindliche Neugier, Kreativität und Begeisterung

  • Beziehungen zu einzelnen Kindern, die wachsen und tragen

  • Gegenseitige Unterstützung im Team

  • Das Gefühl, selbst etwas bewirken zu können. Selbstwirksamkeit als zentraler Schutzfaktor

Doch klar ist auch: Diese Ressourcen reichen allein nicht mehr aus, um den gestiegenen Anforderungen standzuhalten.

 

Was es braucht. Konkrete Forderungen aus der Praxis

Damit frühkindliche Bildung weiterhin gelingen kann, braucht es tragfähige Rahmenbedingungen und gezielte strukturelle Veränderungen:

  • Deeskalation lernen:
    Fachpersonen benötigen Strategien für herausfordernde Situationen, insbesondere wenn sie alleine agieren müssen

  • Pädagogische Handlungssicherheit stärken:
    Gewaltprävention und Alternativen zum körperlichen Festhalten müssen bekannt und eingeübt sein

  • Gesprächsführungskompetenz erweitern:
    Besonders im Umgang mit Eltern in belasteten oder eskalierenden Situationen

  • Erziehungspartnerschaft fördern:
    Elternarbeit braucht verbindliche Strukturen, gegenseitiges Verständnis und gemeinsame Verantwortung

  • Politische und institutionelle Rückendeckung:
    Anerkennung der Realität im Kindergartenalltag und frühzeitige, verlässliche Unterstützung

  • Klarheit im pädagogischen Auftrag:
    Fachpersonen brauchen Schutzräume, um sich auf das zu konzentrieren, was Bildung ausmacht: Beziehung, Förderung, Orientierung

 

Ein gesellschaftlicher Auftrag. Kein individuelles Problem

Die Herausforderungen im Kindergartenalltag sind kein individuelles Versagen einzelner Kinder, Eltern oder Lehrpersonen. Sie sind Ausdruck eines Systems, das an vielen Stellen überlastet ist. Umso wichtiger ist ein gemeinsames, strukturell getragenes Vorgehen mit politischer Rückendeckung, professioneller Zusammenarbeit und klarer Rollendefinition.

 

Denn jedes Kind hat das Recht, ohne Angst in den Kindergarten zu kommen. Und jede Fachperson hat das Recht, in einem Umfeld zu arbeiten, das sie schützt, stärkt und ihre Arbeit möglich macht.

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Jugendgewalt in der Schweiz